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Alles braucht seine Zeit! Das klingt erst einmal nicht gerade nach einer besonders tiefsinnigen Erkenntnis. Blicke ich aber zurück auf die vergangenen Jahre meines Lebens, erkenne ich in diesem Ausspruch eine versöhnliche Wahrheit: Zeit ist eine eigene Domäne. Sie ist nicht recht zu packen. Wenn ich ganz vertieft und konzentriert eine Tätigkeit ausführe, dann vergeht meine gefühlte Zeit wie im Fluge, irgendwie auf wunderliche Weise. Schneckenähnlich langsam hingegen kriecht sie voran, wenn ich unfreiwillig abwarte, was als Nächstes geschehen wird, und als noch schlimmer erlebe ich es, wenn ich warten muss und nicht warten will. Noch vor zehn Jahren langweilte ich mich in den Wartezimmern von Arztpraxen ebenso wie bei meinem Friseurbesuch oder in der Schlange vor einem Ticketschalter: Heute habe ich Lesestoff dabei oder genieße bewusst und dankbar dieses Geschenk einer Pause.



Der Zeit ist mein persönliches Empfinden egal. Die Zeit als solche ist weder sichtbar noch greifbar. Es ist die tickende Uhr im Wartezimmer, die mir eine Rückmeldung gibt, oder das Smartphone, welches die dekorative Armbanduhr in weiten Bevölkerungskreisen bereits abgelöst hat. Was also macht die Zeit für viele zu einem Feind? Weshalb treten wir gegen sie an wie bei einem Wettlauf oder ringen mit ihr wie mit einem Gegner auf der Matte? Weshalb versuchen wir, die Zeit unter Kontrolle zu bringen? (Es gibt ja unzählige Ratgeber und Seminare zum Thema „Zeitmanagement“, aber irgendwie scheint dieser Weg nicht zu funktionieren.)


„Life is what happens to you, while you are busy making other plans“ wird gerne als Zitat John Lennon zugeschrieben, der in den frühen Siebzigerjahren seinen persönlichen Ausstieg bei den Beatles aus einem für ihn zunehmend fremdbestimmten Leben realisierte. Liegt darin des Pudels Kern? Geht es gar nicht um Zeit, geht es eigentlich um Freiheit?


Es ist leicht nachzuvollziehen, dass wir unsere Lebenszeit für sehr unterschiedliche Tätigkeiten einplanen und verwenden. Auch unser soziales Leben erfordert Koordination und Balance. Nach K.H. Geißler zählt das Wort „Zeit“ zu den am häufigsten gebrauchten Wörtern unserer Alltagssprache. Vielleicht macht uns eher als die Zeit die Hektik des Alltags zu schaffen, die wir glauben nur durch einen Kampf besiegen zu können!? Ähnliche Gedanken gingen vielleicht auch Bertolt Brecht durch den Kopf, als er 1953 sein Gedicht „Radwechsel“ verfasste:


Ich sitze am Straßenhang.

Der Fahrer wechselt das Rad.

Ich bin nicht gern, wo ich herkomme.

Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre.

Warum sehe ich den Radwechsel mit Ungeduld?

 

Bertolt Brecht (1898–1956)

 

Was aber, wenn wir die Zeit zur Freundin erklären? In ihr eine angenehme Beraterin sehen, die uns hilfreich zur Seite steht, damit wir bewusst leben? Uns also ganz bewusst entscheiden, was wir mit dieser Zeit, unserer Lebenszeit anfangen wollen? Es geht vielleicht auch darum, zu akzeptieren, welche Tätigkeiten für uns notwendig sind, weil sie dazugehören, um wichtige Meilensteine unseres Lebens zu erreichen? Und um herauszufinden, welche Aktivitäten uns wirklich erfüllen? Und für die sich die investierte Zeit immer lohnen wird, weil sich dadurch unsere Energiereserven wieder voll aufladen. Ein Zustand, der als Flow beschrieben und von Mihály Csíkszentmihályi, einem ungarisch- amerikanischen Psychologen, seit den Achtzigerjahren erforscht wird.


Die Zeit zur Freundin zu erklären, macht auch deshalb Sinn, weil wir mit fortschreitendem Alter keine Zeit mehr verschwenden wollen. Wir haben ja längst verstanden, dass unser Leben endlich ist. Doch was ist, wenn wir Zeit verschenken? Wenn wir sie absichtsvoll und freiwillig zur Verfügung stellen? Erleben wir uns dann nicht selbst als freigiebig und großzügig und fühlen uns erstaunlich wohl? Besonders dann, wenn wir erkennen, wie viel Freude wir damit bei anderen Menschen bewirken, kann das ein sehr beglückendes Gefühl auslösen. Selbst wenn die Zeit dadurch schwindet, so ist sie nicht verschwendet.


Für einen klugen Umgang mit der Zeit ist es also ganz günstig, sich für ein bewusstes Leben zu entscheiden. Und darin gemäß dem eigenen Lebensabschnitt Zeiten zu planen und ungeplante Zeitinseln zu gestalten. Mit diesem Vorgehen halten wir uns auch dauerhaft Michael Endes graue Männer vom Hals, die als Zeit-Diebe in seinem Buch Momo unterwegs sind, um das menschliche Glück zu zerstören und Menschen in eine Unglück bringende geldgierige Hektik zu treiben. (Manche Menschen entscheiden sich bewusst dafür, so zu leben: Das mag traurig sein, ist aber ihr gutes Recht!) Mit seiner Figur Momo hat Michael Ende in den Achtzigerjahren ein sehr weises Kind geschaffen, dem eine Umdeutung von Zeit gelingt: Bei der Zeit kommt es auf die Qualität an und nicht auf die Quantität. Wenn wir das beachten, wird unsere Zeit zum gelebten Leben oder ist Ausdruck von Lebendigsein und sozialem Miteinander. Den Sinn dieser Geschichte habe ich bereits vor vielen Jahren verstanden. Was sie aber im tiefsten Kern für mich selbst und für meine Lebensgestaltung bedeutet, ist mir durch die Coronapandemie sehr klar geworden. Seitdem habe ich die Zeit zu meiner Freundin erklärt. Dadurch fällt es mir auch leichter zu akzeptieren, dass manche Dinge so sind, wie sie sind – und eben nicht immer beeinflussbar! Oder eben eine gewisse Zeit benötigen.


Illustration „Zeitverschwindung“: WORTEIL von https://stephanmaria.de/worteil/


Literatur:

Brecht, B. (1964): Gedichte im Exil. Buckower Elegien. Insel-Bücherei Nr. 810. Frankfurt am Main: Insel Verlag.

Csíkszentmihályi, M. (1990): Flow. The Psychology of Optimal Experience. New York: Harper & Row.


Ende, Michael (2018): Momo oder Die seltsame Geschichte von den Zeit-Dieben und von dem Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurückbrachte. Ein Märchen-Roman. Stuttgart: Thienemann.

Geißler, Karlheinz A.; Geißler, Jonas (2015): Time is honey. Vom klugen Umgang mit der Zeit. München: oekom.


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